Zur Zeit Jesu gab es praktisch ausschließlich Judenchristen: Wer in Jesus den verheißenen Messias erkannte, kam aus dem jüdischen Volk und Glauben. Es gab also keine „Heidenchristen“. Erst als die Christen aus Jerusalem vertrieben wurden oder freiwillig in heidnische Gebiete zogen, kamen „Heiden“ zum Glauben – Menschen, die den Gott der Juden zuvor nicht gekannt hatten. Anfangs waren die Judenchristen noch in der Mehrheit, die Heidenchristen passten sich an. Doch schon bald wendete sich das Blatt: Die Heidenchristen waren nicht so stark an die Tradition und die Religionsgesetze des Alten Testaments gebunden und setzten sich mit ihrer Überzeugung und neuen Traditionen durch. Während sich das Christentum ausbreitete, wurden die Judenchristen innerhalb des Christentums mit der Zeit zu einer Minderheit.
Die Zeit der Trennung von Juden und Nichtjuden
Das Judentum selbst stand gleichzeitig vor einer ganz anderen Herausforderung: Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr. machte eine Neuorientierung des Lebens innerhalb des Judentums erforderlich, weil nicht mehr im Tempel geopfert werden konnte. Unter der Führung des Pharisäers Jochanan ben Zakkai und seines Nachfolgers Gamaliel II wurden Wege gesucht, um nun ohne den Tempel nach den Ordnungen der Tora leben zu können. Sie entwickelten Anweisungen von der Wiege bis zur Bahre für das tägliche Leben, die in den Talmud einflossen. Von nun an nahm die Synagoge den Platz des Tempels ein, die Toralesungen und die Gebete den des Opferns. So entwickelte sich ein neues rabbinisches Judentum als Gegenbewegung zum messianisch-christlichen Judentum.
Die Trennung zwischen Juden und Judenchristen verschärfte sich, als Bar Kochbar 135 n. Chr. von Rabbi Akiba als Messias ausgerufen wurde, weil die Judenchristen keinen zweiten Messias akzeptieren konnten.
Gleichzeitig entwickelte sich an der ersten Katechetenschule in Alexandrien ein „theologischer Antijudaismus“ durch Clemens von Alexandrien und Origenes. Auf dem ersten Konzil zu Niccäa 325 n. Chr. unter Kaiser Konstantin schritt die kirchliche Trennung zwischen Juden, Judenchristen und Nichtjuden weiter voran.
Die Trennung verschärfte sich, als die christlichen Fest- und Feiertage neu geordnet wurden, und erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 363 n. Chr. unter Kaiser Theodosius, der Nichtjuden unter Todesstrafe stellte, wenn sie irgendeine Verbindung zu Juden beziehungsweise Judenchristen hatten.
Auf dem zweiten Kirchenkonzil in Konstantinopel 381 n. Chr. wurde dann durch Gesetze die endgültige bürgerliche und gesellschaftliche Trennung von Juden und Nichtjuden vorgenommen.
Das notvolle Mittelalter
Von der „Theologie der Judenverwerfung“ (Ersatztheologie) ausgehend, konnte die Kirche mit den Juden als Volk Gottes nichts mehr anfangen. Dies führte zu Verfolgungen, Vertreibungen und Tötungen in einem unvorstellbaren Ausmaß. „Zwangsmissionierungen“ verschärften den Konflikt zwischen Kirche und Synagoge. All das führte dazu, dass die Juden das Evangelium als etwas höchst Antisemitisches betrachteten, mit dem sie nichts zu tun haben wollten. Das Kreuz wurde zu einem Symbol des Schwertes im Leben der Juden.
So erlosch das Judenchristentum in der Kirchengeschichte als eine eigenständige Bewegung, auf dessen Fundamenten in der Frühzeit das Christentum entstanden war.
Der einzigartige Segen des Pietismus
Jahrhunderte später führte der Pietismus zu einer Neubelebung des Judenchristentums, wie es sie seit der Zeit der Apostel nicht mehr gegeben hatte. Der Pietismus ist eine Bewegung, die durch Philipp Jacob Spener (1635-1705) entstand. Spener studierte in Straßburg und Basel und lernte schon als 16-Jähriger Hebräisch, Arabisch und Talmudwissenschaften. Nachdem Spener 1666 mit nur 31 Jahren als „Senior der Pfarrerschaft“ nach Frankfurt am Main berufen worden war, brach in seiner Kirche eine Erweckung durch die „Hausversammlungen“ aus, die er zweimal in der Woche in seinem privaten Haus abhielt. In dieser Zeit machte Spener mit dem Unrecht des Frankfurter Judengettos, das nicht weit entfernt von seiner Pfarrstelle lag, seine Erfahrungen. Daher betonte er unermüdlich, dass nur der Glaube, der in der Liebe Christi tätig ist, wahrer christlicher Glaube ist.
1686 wurde Spener königlicher Hofprediger in Dresden, danach nahm er 1691 eine Berufung nach Berlin an, wo er als „Konsistorialrat“ bei der Besetzung der Pfarrstellen nur Gemeindepastoren anstellte, die im Sinne des Pietismus lebten und arbeiteten. Der Pietismus plädierte neben seinen kirchlichen Reformen für einen neuen Umgang mit den Juden, woraus ein positiveres Verhältnis zu Juden entstand. Spener warb gerade in den neu entstandenen Gebets- und Gemeinschaftsgruppen (woraus später die Gemeinschaftsbewegung innerhalb der Landeskirche entstand), für Israel zu beten und den Juden in tätiger Liebe zu begegnen.
Das Judenchristentum entsteht wieder
Zeitgleich kam Esdras Edzard (1629-1708), ein sephardischer Jude aus dem Elsass, zum Glauben an Jesus. Wie Spener studierte er in Basel, um dann im Auftrag des ersten „Institutum Judaicum“ (jüdisches Institut) in Europa, das 1650 in Straßburg gegründet wurde, als Lehrer für orientalische Sprachen nach Hamburg zu gehen. Er wurde Professor und gründete neben seiner Lehrtätigkeit Hausversammlungen für Juden nach dem Vorbild von Spener. Spener selbst schickte seine Schüler nach Hamburg. Über 50 Jahre wirkte Edzard in Hamburg und gründete die erste „Proselytenanstalt“ (Haus für jüdische Menschen, die ihres neuen Glaubens wegen eine Unterkunft brauchten) von seinem eigenen Geld.
Ein Freund von Spener, der spätere Professor für orientalische Sprachen an der neugegründeten pietistischen Universität Halle und Waisenhausgründer, August Hermann Francke (1663-1727), studierte ebenfalls bei Edzard. Er wurde einer der Hauptträger des Pietismus.
Ebenso Johann Heinrich Callenberg (1728-1792), Professor für orientalische Sprachen, der den Gedanken von Spener und Francke aufnahm: Juden in Liebe auf der Strasse oder in der Synagoge im Einzelgespräch auf den Messias hinweisen zu wollen. Er druckte die ersten Schriften in Hebräisch, Jiddisch und sogar in Arabisch. Unter seiner Führung entstand das deutsche „Institutum Judaicum“ in Halle mit dem Ziel, Juden mit dem Evangelium qualifiziert zu erreichen.
Philipp Jacob Speners Patenkind wurde später der Bahnbrecher der äußeren Mission innerhalb des Pietismus. Er sorgte dafür, dass seine Schüler in die neu entstandenen judenchristlichen Kreise in Hamburg eingeführt wurden. Dieser Mann, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760), der nach dem Prinzip von Spener in einer tätigen Liebe sein Glaubenszeugnis dokumentierte, gründete 1722 auf seinem Landgut die Siedlung „Herrnhut“ für verfolgte Christen und Judenchristen. Innerhalb kürzester Zeit ließen sich über 300 Gläubige dort nieder, darunter auch Familien mit ihren Kindern. Die Losungen als Wegbegleitungen für den Tag nach dem Vorbild der synagogalen Praxis (ein Toratext und ein Text aus der Haftara, Propheten oder Schriften) entstanden damals durch ihn und zählen noch heute zu den wichtigsten geistlichen Schriften der Christenheit.
Die Väter des Pietismus legten den Grundstein zu einem Aufbruch unter den Juden. Das Judenchristentum entstand neu, wie es seit den Tagen der Apostel nicht mehr existiert hatte. Alles, was später entstand, geht auf die Liebe dieser Christen zurück. Da viele Geistliche Hebräisch lernten, ebenso die Gettosprache „Jiddisch“, und Judenchristen sich auf Herrnhut niederlassen durften, konnten zum ersten Mal nach über 1000 Jahren Juden wieder mit Christen gemeinsam die schmerzvolle Trennung überwinden. Die Pietisten und das wiedererstandene Judenchristentum bildeten die Basis für einen wunderbaren Segen.