Nazareth und die seltsame Messiasverheißung

Warum bezeichnet Matthäus es als die Erfüllung einer messianischen Verheißung, dass Jesus in Nazareth aufgewachsen ist? 

Jesus wird im Neuen Testament 18-mal als Nazarener oder Nazoräer bezeichnet (je nach Übersetzung, z.B. Mt. 2,23; Mk. 1,24; Joh. 18,5.7; Apg. 2,22). Seine Anklageschrift, die später ans Kreuz genagelt wurde, lautet wörtlich: „Jeschua, der Nazoräer/Nazarener, König der Juden“ (Joh. 19,19), und auch Jesus selbst benutzte diese Formulierung nach seiner Auferstehung Saulus gegenüber (Apg. 22,8). Später wurden die Nachfolger Jesu vor dem Jerusalemer Gericht ebenso als Nazoräer bzw. Nazarener bezeichnet (Apg. 24,5). Heute werden die Jesusnachfolger in Israel „Nozrim“ genannt, was wie „Nazoräer“ auf die Wortwurzel „Nezär“ zurückgeht. Was hat es damit auf sich?

 

Eine erfüllte Verheißung

Maria und Josef zogen nach der Flucht nach Ägypten mit Jesus zurück nach Nazareth, wo die Familie lebte und Jesus aufwuchs. Die Stadt, die oberhalb der Jezreel-Ebene am Südrand der galiläischen Berge liegt, genoss zu jener Zeit keinen besonders guten Ruf (Joh. 1,46). Zwar nahe bei der großen Handelsstraße zwischen Syrien und Ägypten gelegen, fand sie dennoch weder im Alten Testament noch in den jüdischen Schriften Erwähnung. Der Name taucht erst in der hasmonäischen Dynastie im 2. Jahrhundert v.Chr. auf. In den Tagen Jesu hatte der Ort maximal 500 Einwohner aufzuweisen, die primär, jedoch mehr schlecht als recht, von der Landwirtschaft lebten. Doch auch wenn Nazareth derart unbedeutend war, sieht der Evangelist Matthäus in der Tatsache, dass Jesus „Nazarener“ ist, die Erfüllung einer Verheißung (Mt. 2,23). Um zu verstehen, was das mit dem Messias zu tun hat, muss man wissen, dass im griechischen Text „Nazaraios“ steht, was als „Nazarener“, aber auch als „Nazoräer“ übersetzt werden kann. Diese Doppeldeutigkeit lässt sich auf Deutsch nur schwer ausdrücken.

Wie oben bereits angedeutet, leitet sich „Nazoräer“ vom Wort „Nezär“ ab, was Zweig, Trieb oder Spross heißt und in Jesaja 11,1 als Bild für den Messias verwendet wird: Dieser soll als Spross aus der Wurzel Isais, des Vaters von David, hervorgehen. Da im Hebräischen die Wurzelkonsonanten (NZR) entscheidend sind, erkannte Matthäus die Erfüllung dieser Verheißung darin, dass Jesus in Nazareth wohnte und daher „Nazaraios“ genannt werden konnte. Auf wunderbare Weise war also die Herkunft aus Nazareth eine Erfüllung der messianischen Verheißung. Für Matthäus wurde dadurch klar: Jesus ist der Messias.

 

Ablehnung

Leider gelangten die Bewohner von Nazareth zur Zeit Jesu nicht zu derselben Überzeugung. Wir lesen in Lukas 4,16-30, dass ihm Menschen, die ihn von Kindheit an kannten, sogar nach dem Leben trachteten. Was war geschehen?

Jesus kam in seine Vaterstadt und ging am Schabbat in die Synagoge. Die Bauweise des Gotteshauses aus dieser Zeit ist im Nazareth Village, einem Freilichtmuseum im heutigen Nazareth, zu besichtigen. Jesus wurde aufgefordert, einen Textabschnitt aus der Bibel zu lesen: Jesaja 61,1-2. Da schon damals die Bibel (das Alte Testament) in 54 Rollenabschnitten vorlag, könnte es sein, dass in Nazareth gerade die 51. Schriftlesung an der Reihe war. Diese Lesung aus 5. Mose 29,1 – 30,20 hat Jesaja 61 als ergänzende Kommentierung. Heute beginnt die Lesung erst ab Vers 10, doch sollte es damals ab Vers 1 gewesen sein, dann fand die Begebenheit im September/Oktober statt. Wir lesen in Lukas 4,16-22 von der großen Verwunderung der Zuhörer über Jesu Lehre, die von Weisheit geprägt war. Obwohl sie auch Zeugen seiner Wundertaten wurden (Mt. 13,54ff.; Mk. 6,2), wollten sie dennoch eher seinen Tod, als an ihn zu glauben.

Später versank das Dorf wieder in Bedeutungslosigkeit. Die Geschichtswellen überrollten auch Nazareth. Mehrmals zerstört und wieder aufgebaut, war es mal christlich, dann jüdisch, lange Zeit muslimisch. Während der osmanischen Periode wuchs das Dorf zu einer arabisch-christlichen Kleinstadt heran. Heute ist sie die größte arabische Stadt Israels mit mehr als 72’000 Einwohnern, wovon die Hälfte inzwischen muslimisch ist.

Ab 1914 konnten die christlichen Templer einiges zur Entwicklung der Stadt beitragen. Neben dem Bereich der Landwirtschaft bauten sie die Transportwege von Akko über Nazareth nach Jerusalem aus.

Die heutige Verkündigungskirche ist das größte kirchliche Bauwerk in Israel. Sie wurde am 23. März 1969 als fünfte Nachfolgekirche eingeweiht. Ihre Vorgängerbauten an gleicher Stelle wurden rekonstruiert, so dass als gesichert gilt, dass die Judenchristen dort ihre „Kirche“ nach dem Muster einer Synagoge hatten. Dies ist ein wunderbares Indiz dafür, dass trotz der Ablehnung Jesu als Messias einige Nazarener in ihm dennoch den verheißenen Messias erkannten.