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Einführung in die jüdische Schriftauslegung

Jüdische Prinzipien der Schriftauslegung

Juden und Christen haben in der hebräischen Bibel, die Christen als Altes Testament bezeichnen, das gleiche Buch, das sie lesen und studieren. Beide Gruppen halten an der Bibel als primärer Offenbarungsquelle Gottes fest. So könnten wir annehmen, dass sie zu gemeinsamen Schrifterkenntnissen gelangen. Doch das ist bei weitem nicht der Fall. Darum fragen wir uns, was sind die wesentlichen Unterschiede in der Herangehensweise, wie die Bibel zu lesen ist.

Seit der frühsten Kirchengeschichte wird das Alte Testament auf Jesus hin ausgelegt. Doch hat auch Jesus Christus die Bibel so gelesen? Was lernen wir von dem jüdischen Jesus selbst im Umgang mit der Auslegung der hebräischen Bibel?

Es ist spannend zu sehen, wie für Juden die hebräische Bibel in jeder Generation eine persönliche Begegnung mit seinem Volk und seiner Geschichte ist. Was sind die Methoden der jüdischen Schriftauslegung? Für Juden stellt die Bibel oft auch eine Art „Selbstbegegnung“ dar, denn sie ist Teil ihrer Geschichte, und so ist die Schrift in jeder Generation von neuem „lebendig“. Dadurch konnte die Bibel das jüdische Volk über die Jahrtausende zusammenhalten.

Für Christen ist es eine große Bereicherung, diese oft unbekannten Prinzipien und Methoden jüdischer Schriftauslegung näher kennenzulernen. Daher wird dieses Seminar eine besondere Chance sein, den Gott der Bibel ganz neu kennenzulernen, der sich ja gerade durch die Bibel geoffenbart hat.

 

1 Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Juden und Christen im Umgang mit der heiligen Schrift

Grundsätzlich

Der jüdische Schriftsteller Heinrich Heine (1797-1856) sagte einmal über die Bibel, das er ihr den Weg des Heils zu verdanken hat. „Wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buch wieder finden. Wer ihn nie gekannt hat, dem weht hier der Odem des göttlichen Wortes entgegen“.

1.1 Das Wort Gottes bleibt richtungsweisend

Daher hat der Hamburger Rabbiner Samson Raphael Hirsch 1808–1888 recht, wenn er von der Schrift sagt: Die Gesetze der Offenbarung sind unveränderlich wie die Natur, daher sind sie unantastbar. Unser Bestreben muss dahingehen, ihren Sinn zu erfassen. So trat er dafür ein, dass eine „Erziehung der Zeit zur Thora und nicht eine Nivellierung der Thora nach der Zeit“ stattfindet. Der Mensch muss sich dem Wort Gottes unterordnen und nicht das Wort dem Menschen.

So passierte es einmal, das im Rahmen einer Knesset-Versammlung einer der berühmtesten Politiker Israels, Shimon Peres, geb. 1923 in Weißrussland, König David kritisierte, worauf einer der ultraorthodoxen Abgeordneten einen Herzinfarkt erlitt.

Hier können wir erahnen, welch ein tiefer Respekt vor dem Wort Gottes bei manchen Menschen vorhanden ist.

S. R. Hirsch, der seinen Hauptwirkungsort in Frankfurt am Main hatte, war in seiner Zeit einer der größten Schriftexegeten. Er kam nach Abschluss der Thora-Exegese über die 5 Bücher Mose zu dem Ergebnis: Nicht allein die wissenschaftliche Arbeit, sondern die pädagogische Umsetzung in das Leben müssen die Ergebnisse des Schriftstudiums sein.

„Nicht die Schriftauslegung, sondern das Tun dessen, das durch die Schriftauslegung erkannt wurde, ist das Wesentliche am Schriftstudium“.

 

1.2 Das Wort Gottes bleibt aktuell

So ist die Identifizierung des Volkes des Buches mit dem Buch der Bücher, als ihr Buch, zurzeit stärker denn je, wo erneut eine Sehnsucht nach geistlicher Orientierung aufgebrochen ist. Nicht allein das Talmud-Studium steht im Vordergrund, sondern immer mehr die ganze hebräische Bibel, das AT an sich, oder eben die Thora, die 5 Bücher Mose, als der Kern des religiösen Judentums.

Es ist richtig, ohne Bibel gäbe es kein Judentum und Christentum, aber dennoch haben beide Gruppierungen ein unterschiedliches Herangehen an die Bibel. Für das Judentum ist das Lesen der Thora verpflichtend. So steht für jedes Kind ab der Bar- oder Bat Mitzwa mit 12 oder 13 Jahren allein die Bibel im Mittelpunkt, denn durch sie wird er bzw. sie ein Sohn oder eine Tochter der Gebote und Ordnungen der Bibel. Die Thora (5 Bücher Mose) stellen das Herz der Schrift dar, die Schriften dokumentieren, wie Israel mit der Thora umgegangen ist und die Propheten erklären die Ursache, warum Segen oder Rücknahme des Segens Gottes dem Volk Israel geschieht, indem sie die Thora achteten bzw. missachteten.

Insofern ist es wichtig, den richtigen Schlüssel beim Lesen der Bibel zu haben. Auf christlicher Seite hat sich der reformatorische Grundsatz durchgesetzt: „Die ganze Schrift muss Christus treiben“ (Luther). Die messianische Linie ist tatsächlich eine der Hauptrichtlinien beim Studieren der Bibel, denn auch im NT wird immer wieder gesagt, dass im Tenach (AT) das gesamte Heilsgeschehen Gottes prophezeit ist.

In den Evangelien wird verschiedentlich darauf hingewiesen, so z. B. in Joh. 1,45: „Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz (Thora) und die Propheten (Neviim) geschrieben haben, Jesus, Josephs Sohn, aus Nazareth.“ Oder auch der Herr Jesus selbst sagte, dass Mose in seinen Schriften (Thora) von ihm geredet hat (Joh. 5,47). Auch bei der Erweckung des Lazarus berief Jesus sich auf Mose und die Propheten als Zeugen für Israel (Lukas 16,31). Die ersten Gläubigen und Apostel teilten ebenso nach diesem jüdischen Grundsatz die Schrift ein (Apg. 8,26-39; 17,1-4; 18,28; 28,23); Alle dokumentierten aus dem Tenach die Messianität Jesu. Dies veranlasst uns, ihrer Dokumentation zu folgen.

Im Studienheft „Die messianischen Verheißungen im Tenach“, (siehe https://mstudien.de/buecher/) haben wir vieles zusammengefasst, was Mose, die Propheten und die Schriften der Bibel tatsächlich über den Messias, über Israel und die Zukunft der Welt aussagten.

Doch die jüdische Schriftauslegung, welche nicht allein die messianische Deutung zum Ziel hat, ringt primär um die Frage: Warum wollte Gott, dass ich das weiß und was bedeutet das für mein Handeln?“

Sie hat das Ziel, mich in meinem sittlichen Handeln auf eine höhere Ebene zu stellen und meine geistige Orientierung auf Gott hin auszurichten, damit durch mich auch eine „Heiligung der Welt“ geschieht, d. h. dass ich zum Segen Gottes in dieser Welt beitrage und Jesus die Ehre gebe.

Der ganze Reichtum der Gedanken Gottes entfaltet sich in besonderer Weise durch ihre Botschaften. Dem dürfen wir mit dem richtigen Schlüssel zur Schrift nachgehen. Daher dürfen wir mit großer Zuversicht durch die Botschaft des Mose, der Propheten und der Schriften, ebenso des NTs in die Zukunft gehen.

 

2 PaRDeS = der jüdische Schlüssel der Schriftauslegung

2.1 Der vierfache Schriftsinn

Das jüdische Bibelstudium richtet sich nach der Lehre des PaRDeS.

Bevor wir uns dem Tenach (AT) zuwenden, müssen wir uns kurz mit dem jüdischen Schriftverständnis beschäftigen. Da ist in vierfacher Weise ein Wort, ein Vers oder ein Abschnitt der Bibel zu unterscheiden.

Besonders im Mittelalter haben vier jüdische Schriftausleger diese Lehre so benannt. Doch Ansätze über den vierfachen Schriftsinn waren vorher auch schon im Christentum vorhanden und diesen vierfachen Schriftsinn entdecken wir auch innerhalb der Bibel.

So hat Thomas von Aquin erklärt, dass die erste Bedeutung der Heiligen Schrift durch den „ersten Sinn“ geschieht. Für ihn ist das ist der geschichtliche oder der Wortsinn.

Als zweites ist es der „geistige Sinn“, der wiederum dreifach eingeteilt wird:

  1. „Soweit die Geschehnisse des AT, die des NTs vorbilden, ist das ist der allegorische Schriftsinn.
  2. Das was in Christus selbst geschah oder an seinen Vorbildern, zum Zeichen für unser eigenes Handeln, das ist der moralische Sinn.
  3. Das was vorbildet, was in der ewigen Herrlichkeit sein wird, haben wir den analogischen Sinn.“[1]

Die dritte Schriftbedeutung ist ähnlich wie im geistigen Sinn und stellt die Frage nach dem moralischen Sinn und dem, was wir zu tun haben.

Die vierte Bedeutung ist für ihn die Analogie, d. h. die Frage, wonach wir zu streben haben, z. B. das Ziel der Ewigkeit zu verfolgen.

Für ihn ist die vierstufige Entwicklung des Schrift-Sinns maßgebend und keine vierfache Unterscheidung der Heiligen Schrift wie im Judentum. So ist durch ihn die Basis des reformatorischen Schriftsinns begründet, nämlich dass „alle Schrift Christus“ treiben muss. Das Schwierige daran ist, dass für Christen mit dieser Haltung der Schriftauslegung kaum ein Raum für jüdische Schriftauslegung gegeben ist.

Daher wollen wir den „jüdischen Schlüssel“ der Schriftauslegung näher beleuchten.

2.2 Die verschiedenen Formen der PaRDeS-Lehre

Die verschiedenen Formen der PaRDeS-Lehre für das Bibelstudium werden mit den hebräischen Anfangsbuchstaben der vier verschiedenen Interpretationsmethoden und Sinn-Bedeutungen wiedergegeben:

Pschat      =    „einfacher“ Schriftsinn

Remes     =    „angedeuteter“ Schriftsinn

Drasch     =    „belehrender“ Schriftsinn

Sod          =    „geheimer“ Schriftsinn

 

2.3 Die Gattung der Bibelbücher

muss ebenso berücksichtigt werden. Da ist es wichtig, die jüdische Einteilung der Schrift zu berücksichtigen. Daher habe ich sie in dieser Schrift als Exkurs beigefügt, ebenso die Unterscheidungen der Reihenfolge gegenüber der christlichen Einteilung der Bibel.

Pschat      =    Chronik (Geschichte)

Remes     =    Weisheit

Drasch     =    Weisung (Thora)

Sod          =    Prophetie

 

2.4 Die Anwendung der Schrift bei den führenden rabbinischen Autoritäten

Diese haben ein System erarbeitet, das uns helfen wird, neue Entdeckungen in der Bibel zu machen.

Die Meister der jüdischen Schriftauslegung nach dem PaRDeS-Schlüssel.

  • Rabbi Schlomo ben Izchak (1040–1105), genannt Raschi
  • Rabbi Mosche ben Maimon (1138–1204), genannt Rambam
  • Rabbi Mosche ben Nachman (1194–1270), genannt Ramban
  • Rabbi Mosche Kordovero (1522–1570), genannt Ramak

In der Aufstellung habe ich den Schwerpunkt ihrer Bibelauslegung mit einem Stichwort zusammengefasst:

Pschat      =    Raschi        =    Wort-Sinn

Remes     =    Ramban      =    Bild-Sinn

Drasch     =    Rambam     =    Begriff-Sinn

Sod          =    Ramak        =    Geheim-Sinn

Mit Moses Mendelsohn (1729–1786) ist eine neue Form des PaRDeS-Schlüssels entstanden, welche heute stark innerhalb des „aufgeklärte Judentums“ seine Beachtung findet.

Pschat-Notation                =    Information

Remes-Konnotation           =    zwischen den Zeilen und Texten lesen

Drasch-Instruktion             =    für den Leser

Sod- Intention                   =    Auslegung des Autors

2.5 Exkurs

Bei diesem jüdischen Schriftverständnis ist es wichtig, auch die messianischen Bibelstellen zu berücksichtigen und zu erforschen, welche von der „Schwachheit, als auch von der Stärke“ des Messias prophezeiten. Wir finden auch hier das vierfache Schriftverständnis in den verschiedenen Formen der messianischen Prophetie.

  1. Das erste Kommen des Messias in Schwachheit
  2. Das zweite Kommen des Messias in Kraft
  3. Die Ankündigung beider Prophetien in einem
  4. Das Heilshandeln des Messias für Juden und Nichtjuden und die Vollendung seines Handelns

 

Den passenden Videobeitrag finden Sie unter https://mstudien.de/themen/videos/ oder direkt auf unserem YouTube-Kanal.

 

[1] Daniel Krochmalnik, Im Garten der Schrift – Wie Juden die Bibel lesen, Sankt Ulrich Verlag Augsburg, 2006, S. 9