Die messianischen Juden in Deutschland formieren sich heute wieder. Bis vor dem Zweiten Weltkrieg war die „Judenchristliche Allianz“, wie sie sich nannte, eine Selbstverständlichkeit. Der Vorläufer der „Judenchristlichen Allianz“ war eine 1813 in London gegründete Judenchristliche Vereinigung mit der Bezeichnung „B’ne Abraham“ (Söhne Abrahams). Sie umfasste 41 Mitglieder und war primär eine Gebetsvereinigung, die in der Fürbitte für das „unbekehrte Israel“ stand.
Die Bezeichnung „Judenchristen“ war vor dem Zweiten Weltkrieg seit den Tagen der frühen Kirche die gängige Bezeichnung. Die Engländer verwendeten den treffenderen Begriff „Hebräische Christen“. In Amerika spricht man von den „Messianischen Juden“.
Teil der evangelischen Allianz
1845 trafen sich in Liverpool 217 Pastoren, um eine „evangelische Allianz“ mit gemeinsamen Grundsätzen auf Basis der heiligen Schrift zu gründen. Auf diese Bemühungen folgte 1846 die Gründung der weltweiten „Evangelischen Allianz“. 1865 wurde in London die „Judenchristliche Allianz“ gegründet. Dr. Carl Schwartz war der erste Leiter dieser Arbeit, ein zum Glauben an den Messias gekommener Jude. Von Anfang an sah sich die judenchristliche Vereinigung unter dem Dach der evangelischen Allianz geistlich beheimatet und die evangelische Allianz respektierte in ihren Presseartikeln, dass Juden ihren Glauben jüdisch leben. Wichtig ist das Selbstverständnis der Judenchristen. Von Anfang an sahen sie sich nicht nur als einen Teil Israels, sondern als den „Rest des Hauses Israel“, an dem deutlich wird, dass Gott Israel nicht verstoßen hat, sondern seine Gnade gerade durch sie sichtbar wird.
Kontakte durch Konferenzen
Im Jahre 1867 wurde die erste öffentliche judenchristliche Konferenz abgehalten. Das gemeinsame Bibelstudium und das Gebet standen im Vordergrund, aber auch der Austausch unter den Judenchristen aus den verschiedensten Ländern war sehr wichtig. Dies war vor allem deshalb der Fall, weil die meisten Juden, die an den Messias Jesus glaubten, in der Regel in den Synagogen keine geistliche Heimat mehr hatten und von den nichtjüdischen Christen wiederum mit Argwohn betrachtet wurden.
Dennoch war es bis zum Zweiten Weltkrieg kennzeichnend, dass Judenchristen in der Regel immer auch Mitglied einer örtlichen Gemeinde waren. Die Konferenzen der judenchristlichen Allianz ermöglichten es den Judenchristen aus den verschiedenen christlichen Konfessionen, Kontakte zu knüpfen und die Gemeinschaft zu pflegen.
Schon an der ersten judenchristlichen Konferenz nahmen auch international bekannte Judenchristen, wie der holländische Theologe Dr. Abraham Capadose, der holländische Dichter Issak da Costa oder Dr. Saphir, teil. Innerhalb von 25 Jahren hatte die judenchristliche Allianz in England über 600 Mitglieder, darunter sogar die zwei Bischöfe Hellmuth und Schereschewsky,
beide jüdischer Abstammung.
Wachsende Bewegung
Schnell entwickelten sich auch in anderen Ländern ähnliche Vereinigungen von Judenchristen, besonders in Amerika, wo sie unter der Bezeichnung „Hebrew Christian Alliance“ (Allianz Hebräischer Christen) zusammen kamen. Mit Leon Levison, einem 1881 in Safed geborenen Rabbinersohn, der an Jesus gläubig wurde, bekam die judenchristliche Allianz nach dem Ersten Weltkrieg einen internationalen Charakter. Zusammen mit amerikanischen Judenchristen lud Levison zu einer internationalen Konferenz aller Judenchristen vom 5.-12. September 1925 nach London ein.
Wesentlich ist die Begründung der Einladung: „Seit den Tagen der Apostel sind Judenchristen über die ganze Diaspora verteilt, verbannt von ihren unbekehrten Brüdern … Wir glauben, dass sich die Zeit der Heiden ihrer Vollendung nähert und der Gott unserer Väter im Begriff ist, Israel sein altes Erbe wiederzugeben, weil er es gnädiglichst verheißen hat. … Deshalb haben wir uns entschlossen, … alle Judenchristen … weltweit … einzuladen“.
Internationale Allianz
Im Rahmen der Konferenz wurde am 8. September 1925 durch Levison die „International Hebrew Christian Alliance“ (Internationale Allianz Hebräischer Christen) in England gegründet. Diese internationale Organisation der Judenchristen umfasste bei ihrer Gründung zwölf nationale Allianzen in Europa und Amerika und wuchs bis zum Zweiten Weltkrieg auf 20 Allianzen an. Das wichtigste Mitteilungsblatt der Allianz war „The Hebrew Christian“ (Der Hebräische Christ), das zu mehreren zehntausend Ausgaben gedruckt wurde und noch heute existiert. Zur zweiten „Internationalen judenchristlichen Konferenz“ 1928 in Hamburg unter der Leitung von Pastor Arnold Frank kamen Judenchristen aus so vielen Ländern zusammen, dass in 25 Sprachen übersetzt werden musste. Das judenchristliche Informationsblatt von Pastor Frank „Zions Freund“ hatte eine Auflage von 45 000 Exemplaren und fand in allen christlichen Kirchen und Gemeinden Beachtung. Parallel dazu konnte Arnold Frank in Hamburg eine judenchristliche Arbeit, die „Jerusalemkirche“, so weit ausbauen, dass sie internationale Beachtung fand.
Leidenszeit
Die Bedeutung der Judenchristen für die Kirche nahm in dieser Zeit zu, sowohl aus theologischer als auch aus heilsgeschichtlicher Perspektive. Durch die NSDAP wurde in der aufkommenden Diktatur alles Judenchristliche nach und nach vernichtet. Als am 15. September 1935 die ersten Nürnberger Gesetze erlassen wurden, dass Juden nicht mehr länger deutsche Bürger sein durften, betraf dies auch die Judenchristen.
Am 20. Januar 1942 wurde im Rahmen der „Wannseekonferenz“ in Berlin die „Endlösung der Judenfrage“ für das deutsche Reich verabschiedet. Dadurch wurden auch etwa 30 000 Judenchristen vernichtet. Die wenigen deutschen Judenchristen, die den Krieg überlebt hatten, integrierten sich unauffällig in christlichen Werken und Gemeinden. Mir persönlich sind einige deutschsprachige Judenchristen bekannt, die aufgrund der Vergangenheit nur sehr schwer über ihr eigenes Erleben reden können. Für sie ist die Gemeinde zur Familie geworden, nachdem sie meist die eigene Familie verloren hatten. Wiederbelebung Abram Poljak, ein aus Russland stammender Rabbinerenkel, war, meines Wissens, der erste Judenchrist, der versuchte, nach dem Krieg wieder eine judenchristliche Allianz in Deutschland aufzubauen. Er arbeitete nach dem Krieg als Journalist in Süddeutschland.
Am 8. April 1951 organisierte er eine Konferenz in Basel mit dem Ziel, alle verbliebenen Judenchristen im deutschen Sprachraum in eine „Union messianischer Juden“ zu vereinigen. Doch die Zeit war noch nicht reif. Erst mit dem Zuzug der russischsprachigen Juden nach Deutschland entwickelt sich gegenwärtig wieder ein selbständiges Judenchristentum, das an Vergangenem anknüpft. Im Rahmen dieser neuen jüdisch-messianischen Bewegung werden in Zukunft weitere Gemeinden entstehen, ebenso verschiedene Kinder- und Jugendarbeiten, aber auch Jüngerschaftskurse und Ausbildungsprogramme mit spezifisch messianischem Charakter. So entsteht ein gegenseitiger geistlicher Segen unschätzbaren Wertes.