Zu Unrecht fast in Vergessenheit geraten, enthält dieses Buch eine Sammlung von kostbaren Aussagen von Weisheit und Klugheit, die sich über die Jahrtausende im Alltag bestätigt haben.
Der Titel des Buches leitet sich von 1. Könige 5,12 ab. Da wird erwähnt, dass König Salomo 3000 Sprüche und 1005 Lieder verfasste. Im alten Orient hat die sogenannte „Weisheitsliteratur“ eine lange Tradition.
Die hebräische Bezeichnung „Mischle“ entspricht dem ersten Wort des Buches. Es leitet sich von „maschal“ ab, dem hebräischen Wort für Sprüche oder Sprichwörter, wie es auch in 1. Könige 5,12 vorkommt. In der lateinischen Form wird dieses Wort mit „Proverbia“ wiedergegeben.
Insgesamt haben wir acht Spruchsammlungen mit verschiedensten Lebensweisheiten unterschiedlicher Autoren. Sie sind jeweils gesondert gekennzeichnet. Die meisten Weisheitssprüche in den 31 Kapiteln dieses Buches stammen von König Salomo: Kapitel 1–9; 10,1– 22,16 und 25–29.
Spr. 1,1: Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, des Königs Israel
Spr. 10,1: Weitere Worte von König Salomo
Spr. 22,17: Die Worte der Weisen, nimm sie zu Herzen
Spr. 24,23: Weitere Worte der Weisen: es gilt kein Ansehen der Person vor Gericht
Spr. 25,1: Weitere Worte Salomos, die von den Männern Hiskias gesammelt wurden
Spr. 30,1: Dies sind die Worte Agurs, des Sohnes des Jake aus Massa
Spr. 30,15: Von Aluka: Zwei Töchter sagen (in manchen Übersetzungen heißt es: Der Blutegel hat zwei Töchter)
Spr. 31,1: Die Worte des Lemuel, des Königs von Massa
Dieses Buch stellt eine umfangreiche Spruchsammlung der Weisheit Israels dar, die über mehrere Jahrhunderte hinweg entstand: zwischen der Zeit von König Salomo und König Hiskia (ca. 970–700 v. Chr.). Der Schriftgelehrte Raschbam erklärt, König Salomo habe die Weisheit aller Völker zusammengetragen. Im Buch der Sprüche wird sichtbar, dass Gott seine Weisheit im Leben von König Salomo offenbarte, wie 1. Könige 5,9-10.14 beschreibt: „Und Gott gab Salomo sehr große Weisheit und Verstand und einen Geist, so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt, dass die Weisheit Salomos größer war als die Weisheit von allen, die im Osten wohnen, und als alle Weisheit Ägyptens. … Und aus allen Völkern kamen sie, zu hören die Weisheit Salomos, und von allen Königen auf Erden, die von seiner Weisheit gehört hatten.“
Eine Besonderheit
Leider hat das Buch in der biblischen und nachbiblischen jüdischen Tradition kaum eine große Beachtung gefunden. Schon früh taten sich die Schriftgelehrten (Masoreten) mit dem Buch sehr schwer, da sie nicht immer einen Sinnzusammenhang in den Sammlungen und der Anordnung der Einzelverse erkannten. Anders jedoch der große Bibelgelehrte Franz Delitzsch in seinem Kommentar „Salomonisches Spruchbuch“ von 1873.
In den Qumran-Fragmenten- fanden sich übrigens nur zwei hebräische Textabschnitte (Spr. 1,27–2,1 und Teile von Spr. 13–15). Das belegt die untergeordnete Bedeutung des Buches für das Judentum. In den Lesungen der biblischen Wochenabschnitte in den Synagogen tauchen die Sprüche seit dem nachbiblischen Judentum bis heute gar nicht mehr auf. In den hebräischen Kanon aufgenommen wurde das Buch höchstwahrscheinlich, weil der Eigenname des Gottes Israels (JHWH) mehrere Male vorkommt (Spr. 1,7; 9,10; 15,33; 31,30).
Das fast ungewöhnliche Ziel dieser Schrift ist, dass Israel eine Wegweisung, eine Orientierung für den allgemeinen Lebensalltag in die Hand bekommt. Der einzelne Mensch soll sich in Gerechtigkeit und Recht gegenüber dem Nächsten verhalten. In seiner Lebenshaltung soll er nicht primär darauf setzen, sich ein umfangreiches Allgemeinwissen anzueignen, sondern in Respekt und Ehrfurcht vor Gott ein dem Nächsten gegenüber barmherziges Leben zu führen (Spr. 1,7; 3,5.6; 11,24.25; 14,31; 19,17 u. a.). Sogar die Tiere sollen spüren, dass der Gerechte barmherzig zu ihnen ist (Spr. 12,10). Die Ehrfurcht vor dem Herrn ist aller Weisheit Anfang (Spr. 1,7). Eigentlich ist das die gelebte Frömmigkeit, die Gott von uns möchte. Der Mensch soll grundsätzlich in all seinem Tun die Wirklichkeit seiner eigenen Begrenzung anerkennen. Nur das macht ihn weise, denn dadurch wächst das Vertrauen auf die unendlichen Möglichkeiten Gottes. Und vielleicht ist es gerade die unbequeme Botschaft, dass zwischen unserem Handeln und unserem persönlichen Ergehen ein Zusammenhang besteht, im Guten wie im Bösen, die dazu führte, dass das Buch keine nennenswerte Beachtung mehr findet.
Ein Lob auf die Frau
Eine weitere Besonderheit ist, dass in jeder Schabbatliturgie im orthodoxen Ritus am Freitagabend das Loblied auf die Frau nach Sprüche 31,10-31 gebetet wird. Dadurch stellt Israel die besondere Wertschätzung und die Stellung der Frau im Judentum heraus.
Interessant ist auch, dass die Weisheit allegorisch als Frau personifiziert wird: „Sprich zur Weisheit, meine Schwester bist du, und zur Klugheit, meine Freundin bist du“ (Spr. 7,4). Diese Haltung wird dem Sohn, einem Mann also, angeraten (Spr. 7,1). Dadurch soll er vor der fremden Frau beschützt werden, welche ihn mit glatten Lippen zum Unheil verführen will (Spr. 7,5). Die Weisheit ruft insbesondere die Männer in die Verantwortung (Spr. 8,4). Vielleicht ist deshalb der Abschluss dieses Buches in die jüdische Schabbatliturgie eingeflossen.
Dieses besondere Loblied auf die Frau hat interessanterweise die Alef-Bet-Struktur, d. h. der Anfangsbuchstabe jeder Strophe entspricht der Reihenfolge des hebräischen Alphabets.
Geheimnis um Kapitel 8 und 9
In den Kapiteln 8–9 wird die Weisheit in besonderer Weise personifiziert. Die meisten christlichen Bibelausleger sind sich einig, dass in Sprüche 8,22-31 prophetisch von Jesus Christus die Rede ist. Denn es heißt, bevor die Erde geschaffen wurde, war die „Weisheit“ schon der „Liebling“ Gottes (V. 30). Gott, der Herr, hat die Welt durch die Weisheit, welche Jesus Christus ist, erschaffen.
Übrigens wird in Sprüche 1,23 auch die Ausgießung des Heiligen Geistes angekündigt: „Siehe, ich will über euch strömen lassen meinen Geist und euch meine Worte kundtun.“
Jüdische Schriftausleger betonen mit Hinweis auf Sprüche 8,22, die Weisheit sei die Tora, d. h. insbesondere die fünf Bücher Mose. Denn dort heißt es: „Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege (hebr. re-schit darko), ehe er etwas schuf, von Anbeginn her.“ In 1. Mose 1,1 heißt es: „Am Anfang (hebr. be-reschit) schuf Gott Himmel und Erde.“ Das bedeutet in dieser Lesart, dass Gott durch die Weisheit, welche die Tora ist, die Welt geschaffen hat. Daher ist nach jüdischem Verständnis die Tora der Bauplan von Himmel und Erde.
Biblische Redensarten
Einzelne Sätze aus diesem Buch sind wörtlich oder sinngemäß zu allgemein bekannten Wendungen geworden. Hier nur eine kleine Auswahl.
Wenn dich die bösen Buben locken, folge ihnen nicht. (Spr. 1,10 )
Hüte dich vor glatten Worten. (Spr. 2,16)
Sei kein Lästermaul. (Spr. 4,24)
Sei treu in der Ehe. (Spr. 5,17)
Geh hin zur Ameise, du Fauler, und lerne von ihr. (Spr. 6,6)
Hochmut kommt vor dem Fall. (Spr. 16,18)
In Ehren ergraut sein. (Spr. 16,31)
Gutes nicht mit Bösem vergelten. (Spr. 17,13)
Vergelt’s Gott. (Spr. 19,17)
Nicht mit zweierlei Maß messen. (Spr. 20,23)
Es gibt kein Ansehen der Person vor Gericht. (Spr. 24,23)
Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. (Spr. 28,10)
Stellen Sie sich einmal Ihre eigene Spruchsammlung zusammen, denn es gibt so viel an Weisheit in diesem Buch zu entdecken.
Wozu?
Der Zweck dieses Buches wird in den ersten Versen exakt beschrieben:
„Wenn du sie beachtest, wirst du lernen, dich im Leben zurechtzufinden. Sie helfen dir, dich selbst zu beherrschen, und machen dich fähig, gute Ratschläge zu erkennen und anzunehmen. Durch sie gewinnst du Einsicht; du lernst, aufrichtig und ehrlich zu sein und andere gerecht zu behandeln. Wer jung und unerfahren ist, wird urteilsfähig, er bekommt das Gespür für gute Entscheidungen. Selbst wer darin schon geübt ist, kann noch dazulernen. Neue Gedankenanstöße helfen ihm … Alle Erkenntnis beginnt damit, dass man Ehrfurcht vor dem Herrn hat. Nur ein Dummkopf lehnt Lebensweisheit und Selbstbeherrschung ab“ (Spr. 1,2-5.7 Hfa).
Es geht in diesem Buch hauptsächlich darum, die Beziehung zum Nächsten zu ordnen. Daher ist das Zwischenmenschliche und Mitmenschliche im Fokus, weniger der Mensch in seiner Beziehung zu Gott wie etwa in den Psalmen.
Die Sprüche wollen darauf hinweisen, dass der Glaube eines Menschen immer ganz praktische Auswirkungen haben muss. Der Gläubige soll durch die Beziehung mit Gott eine charakterliche Veränderung erfahren, wenn er gegen seinen Neid oder seinen Geiz kämpft und sich in Demut und Bescheidenheit übt. Ebenso erfährt er auch auf sittlicher Ebene eine Veränderung: Er soll in Treue seine Ehe leben und nicht dem Alkohol anhängen, fleißig arbeiten und sich um seine Kinder kümmern. Wer sich diese praktischen Lebenstipps zu Herzen nimmt, wird bald merken, dass sein Leben unter dem Segen Gottes steht. Im Neuen Testament gibt es einige Aussagen, die sich am ethischen Verständnis des Sprüchebuches orientieren, z. B. 1. Timotheus 5,8: „Wenn jemand die Seinen, besonders seine Hausgenossen, nicht versorgt, hat er den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Heide.“
Fazit: Entdecken wir doch die Jahrtausende alten Weisheiten ganz neu, zum Segen für unser Leben.