Beispiel 2 zur jüdischen Schriftauslegung

Der Einführung in die jüdische Schriftauslegung und Beispiel 1 haben wir in den letzten Videos und Beiträgen veröffentlicht. In diesem Beispiel wenden wir erneut den PaRDeS-Schlüssel an und haben bereits das passende Video veröffentlicht. Heute wollen wir uns mit Hesekiel 37:1-14 beschäftigen und setzen zunächst die Kenntnis unserer Einführung und des aktuellen Bibelabschnitts voraus.

In dem Video und dem folgenden Text wird die Elberfelder Bibelübersetzung von 1905 (in der Fassung der Website https://www.toledot.info/die-welt-der…) genutzt. Dementsprechend wird beim Wiedergeben des Bibeltextes auch der in der Übersetzung gewählte G’ttesname für JHWH verwendet, der in anderen deutschen Übersetzungen häufig mit „HERR“ oder „HErr“ umschrieben wird. Die Elberfelder Übersetzung von 1905 ist aufgrund ihrer Nähe zum hebräischen Text gewählt worden. In dieser Übersetzung werden sprachliche Besonderheiten des Bibeltextes deutlicher herausgestellt, auf die in der Auslegung eingegangen wird.

Israels Wiederherstellung in der Vision des Hesekiel (Hesekiel 37,1-14)

1 Die Hand Jahwes kam über mich, und Jahwe führte mich im Geiste hinaus und ließ mich nieder mitten im Tale; und dieses war voll Gebeine.

2 Und er führte mich ringsherum an ihnen vorüber; und siehe, es waren sehr viele auf der Fläche des Tales, und siehe, sie waren sehr verdorrt.

3 Und er sprach zu mir: Menschensohn, werden diese Gebeine lebendig werden? Und ich sprach: Herr, Jahwe, du weißt es.

4 Da sprach er zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret das Wort Jahwes!

5 So spricht der Herr, Jahwe, zu diesen Gebeinen: Siehe, ich bringe Odem in euch, daß ihr lebendig werdet. (Ps. 104,30)

6 Und ich werde Sehnen über euch legen und Fleisch über euch wachsen lassen und euch mit Haut überziehen, und ich werde Odem in euch legen, daß ihr lebendig werdet. Und ihr werdet wissen, daß ich Jahwe bin. (Jes. 26,19)

7 Und ich weissagte, wie mir geboten war. Da entstand ein Geräusch, als ich weissagte, und siehe, ein Getöse: und die Gebeine rückten zusammen, Gebein an Gebein. (Hesek. 37,10)

8 Und ich sah, und siehe, es kamen Sehnen über sie, und Fleisch wuchs, und Haut zog sich darüber obenher; aber es war kein Odem in ihnen.

9 Und er sprach zu mir: Weissage dem Odem, weissage, Menschensohn, und sprich zu dem Odem: So spricht der Herr, Jahwe: Komm von den vier Winden her, du Odem, und hauche diese Getöteten an, daß sie lebendig werden!

10 Und ich weissagte, wie er mir geboten hatte; und der Odem kam in sie, und sie wurden lebendig und standen auf ihren Füßen, ein überaus großes Heer.

11 Und er sprach zu mir: Menschensohn, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, sie sprechen: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren; wir sind dahin.

12 Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr, Jahwe: Siehe, ich werde eure Gräber öffnen und euch aus euren Gräbern heraufkommen lassen, mein Volk, und werde euch in das Land Israel bringen.

13 Und ihr werdet wissen, daß ich Jahwe bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch aus euren Gräbern heraufkommen lasse, mein Volk.

14 Und ich werde meinen Geist in euch geben, daß ihr lebet, und werde euch in euer Land setzen. Und ihr werdet wissen, daß ich, Jahwe, geredet und es getan habe, spricht Jahwe.

(Text nach der Elberfelder Bibel von 1905)

 

Zunächst möchte ich anmerken, dass, wer Hintergrundinformationen zur Person Hesekiels und seines gleichnamigen Schriftwerkes haben möchte, mein Studienheft „Die messianischen Verheißungen im Tenach“ unter info@mstudien.de oder unter info@amzi.org für 12,50 € bestellen kann.

In diesem Heft habe ich von allen großen und kleinen Propheten der Bibel ihre Familiengeschichte herausgearbeitet, ebenso wie, wann und wo sie wirkten und auch ihre unterschiedlichen Prophetien herausgestellt.

Daher werde ich im jetzigen Video aus Zeitgründen nicht so viel über die Person Hesekiel sagen.

Kommen wir zurück zu unserem Text und wir werden diesen Bibeltext nach dem vierstufigen PaRDeS-Schlüssel genauer ansehen 

  1. Was ist der unmittelbare Wort-Sinn bzw. der einfache Schriftsinn?
  2. Was ist der Bild-Sinn bzw. der angedeutete Schriftsinn?
  3. Was ist der Begriffs-Sinn bzw. der belehrende Schriftsinn in unserem Abschnitt?
  4. Was ist der Geheim-Sinn bzw. die geheime, nicht sofort erkennbare Bedeutung unseres Abschnitts?

 

Zur 1. Fragestellung: Was ist der unmittelbare Wort-Sinn bzw. der einfache Schriftsinn?

In unserem Text erfahren wir, wie Hesekiel durch Gott eine Vision hat, die ihn in die Mitte eines Tales führte. Dort war es voll von Gebeinen, d. h. Knochen, die über der Erde lagen und nicht bestattet waren. Des Weiteren sieht er auf der ganzen Fläche des Tales Gebeine, die verdorrt waren, d. h. sie müssen schon eine Zeitlang dort liegen. Denn erst nach ca. sechs Monaten ist die vollkommene Skelettierung vorhanden.

Interessant ist, dass Hesekiel die Frage von Gott gestellt bekommt, ob diese Skelette wieder lebendig werden könnten? Da gibt er die diplomatische Antwort in Vers 3 „Du weißt es, HERR!“

 

Nun soll Hesekiel im Auftrag Gottes eine Weissagung, das heißt prophetisch über die verdorrten Gebeine sprechen: Hört das Wort des Herrn! Ich will Odem, d. h. Atem in Euch geben, dass ihr wieder lebendig werdet. In Vers 6 werden uns die Details, wie die Gebeine lebendig werden, mitgeteilt, nämlich dass die Gebeine wieder Sehnen und Fleisch bekommen sollen und mit Haut überzogen werden und dann abschließend der Atem wieder in sie kommt.

Genauso wie Gott der Herr es von Hesekiel möchte, spricht er prophetisch über die Gebeine.

Im weiteren Abschnitt erfahren wir dann in Vers 9, was es mit den verdorrten Gebeinen auf sich hat. Es sind getötete Menschen.

In Vers 11 wird uns noch ein weiteres Detail mitgeteilt, diese getöteten Menschen sind das ganze Haus Israel.

 

Auffallend ist dann, dass diese Gebeine sprechen: Wir sind ganz verdorrt und wir haben unsere Hoffnung verloren, es ist aus mit uns.

 

Daraufhin richtet Hesekiel seine Prophetie an die verdorrten Gebeine im Auftrag Gottes und wir erfahren noch weitere Details dieser Vision.

Diese verdorrten Knochen sind nicht nur Israel, sondern noch mehr, sie sind das Volk Gottes. Gott spricht von meinem Volk, das in Gräbern liegt und zurückgeführt werden soll in ihre alte Heimat Eretz Israel. Und dadurch soll Israel erfahren, wer der lebendige Gott ist. Mit einem Schwur Gottes, dass er genau das ausüben wird, endet dann unser Abschnitt in Vers 14.

 

 

  1. Was ist der Bild-Sinn bzw. der angedeutete Schriftsinn?

Schon der Name Hesekiel ist eine Botschaft Gottes. Gott macht stark/fest, so die Bedeutung und genau das ist die wiederholende Botschaft dieses Priestersohnes an sein Volk.

Im ersten Vers lesen wir, dass die Hand des Herrn auf Hesekiel kommt. Kaum ein anderer Prophet der Bibel hat so viele Gotteserfahrungen und Gottesbegegnungen gemacht wie Hesekiel. Buchstäblich die Hand Gottes, hier wird der persönliche Name Gottes im Hebräischen genannt, führte ihn im Geist Gottes hinaus. Es ist schon die zweite Begegnung mit Gott. Schon in Hes. 3,22 lesen wir, wie die Hand des Herrn über ihn kommt und er in ein Tal gehen soll. Auch hier lesen wir im Deutschen von einem Tal, es wird uns nicht gesagt, um welches, aber das hebräische Wort „Big´aah“ ist dem Wort nach noch in der „Bekaa-Ebene“ im Libanon vorhanden.

Das heißt, wir dürfen nicht einfach nur an ein Tal oder eine Schlucht denken, sondern müssen uns eine große Ebene vorstellen, welche von Höhen umgeben ist. Diese großen Ebenen sind in Israel reichlich vorhanden, so zum Beispiel die Jesreel-Ebene. Da uns der Name der Ebene jedoch nicht mitgeteilt wird, dürfen wir nicht spekulieren, um welche Ebene es sich handelt. Jedoch lesen wir in Hes. 3,22, dass dort in der Ebene Hesekiel auch die ganze Herrlichkeit Gottes schauen durfte.

Insofern können wir davon ausgehen, dass Hesekiel bei dieser zweiten Führung in das Tal durch die Hand des Herrn zutiefst erschrocken gewesen sein musste, als er es mit menschlichen Gebeinen sah. Es kann auch übersetzt werden, es war voller menschlicher verdorrter Knochen.

Für das jüdische Empfinden ist das ein höchst empörender und niederschmetternder Zustand, denn niemals dürfen Leichname oder menschliche Knochen frei liegen, denn dadurch werden die Toten ihrer Würde beraubt.

Jetzt kommt in Vers zwei jedoch eine Handlung, welche ebenso für eine Person levitischer Herkunft – denn er war, wie gesagt, Sohn eines Priesters – undenkbar und eigentlich vom Gesetz verboten war. Er sieht nicht nur die Gebeine, sondern er wird sogar durch sie hindurchgeführt bzw. es kann auch heißen: Er wird um sie herum geführt. Die Hand des Herrn führt ihn also um die Ebene mit den verdorrten Knochen. Aber nicht nur, dass der Herr hier den zumutbaren Rahmen für einen Leviten sprengt. Gott geht auch auf den Gefühlszustand des Hesekiel ein und erinnert ihn bei der Anrede dennoch fast seelsorgerlich an die Würde der Toten, indem Hesekiel als „Menschensohn“ angeredet wird. Es kann auch heißen, „Sohn des Menschen“. Dadurch wird deutlich, wie entwürdigend ein Zustand ist, wir bleiben „Mensch“ d. h. Schöpfung Gottes.

Höchst interessant ist, neben der Frage des Herrn, ob die Gebeine wieder lebendig werden, die Antwort Hesekiels: Mein Herr und Gott, muss es eigentlich heißen, daran sehen wir, das persönliche Verhältnis, das Hesekiel zu Gott hat, das er ihn “mein Herr“ nennt.

Ebenso ist seine Formulierung in Vers drei im Deutschen „Du weißt es“ zu schwach wiedergegeben. „Jada`ta, von Jodea kann auch bedeuten „du kümmerst dich drum“ oder nur „du verstehst es, nur du kannst das erfahren“. Das bedeutet Hesekiel, traute dem Herrn die Auferstehung der Toten zu!

In der Genfer Übersetzung wird das Wort „O Mein Herr“, vorangestellt, auch das wäre möglich, das besondere Erstaunen darüber zum Ausdruck zu bringen.

Bei der weiteren Textanalyse ist es auffallend, dass anfangs von verdorrten Gebeinen, welche auf der Ebene liegen, die Rede ist, dann wiederum von Gebeinen, welche in Gräbern liegen.

Entweder widerspricht sich der Text, was ich aber nicht für möglich halte, da es sich um das Wort Gottes handelt, oder es gibt noch eine andere Erklärung, die bei einem nur oberflächlichen Lesen nicht sofort erkannt wird.

Während in der Vision von Vers 2-10 tatsächlich über die Gebeine als Getötete geweissagt wurde, wird ab Vers 11 die Vision erweitert und erklärt. Es wird ab Vers 11 vom ganzen Haus Israel gesprochen, d. h. auch die, welche jetzt noch in ihren Gräbern liegen. Nun wird das „Grab“ als Synonym für das Exil gebraucht und ab Vers 12 erklärt. Also das ganze Haus Israel, es beinhaltet alle 12 Stämme Israels, sollen von Gott zurückgebracht werden in ihre ursprüngliche Heimat. Dadurch soll die komplette Wiederherstellung Israels geschehen. Dass diese Vision jeden vernünftigen Rahmen sprengt, entnehmen wir aus der Geschichte Israels. Das Nordreich, zehn Stämme sind bereits 722 v. Chr. nach Assyrien deportiert worden. Also vor mehr als 120 Jahren vor Hesekiel. Er selbst ist ca. 597 v. Chr. nach Babylonien deportiert worden. Jerusalem ist 586 v. Chr. zerstört worden und das restliche Israel ebenfalls deportiert worden.

Das heißt, es gab menschlich gesehen keinen Grund zur Annahme einer Wiederherstellung Israels, denn das komplette Volk Israel, alle 12 Stämme befanden sich im Exil.

Doch wenn in Vers 11 und 12 der Herr selbst die Erklärung gibt, dass er „Kol Beit Israel“ das ganze Haus zurückführt nach Eretz Israel, müssen wir diese Prophetie so annehmen, wie es der Herr sagt. Dass er das tun will, hat er wie gesagt, dann auch mit seinem eigenen Eidesschwur in Vers 14 bestärkt.

 

  1. Was ist der Begriffs-Sinn bzw. der belehrende Schriftsinn in unserem Abschnitt?

In Vers 6 wird uns fast ein Programm Gottes zur Wiederherstellung Israels genannt. Denn da wird von der Wiederherstellung eines Körpers gesprochen. Erst kommen die Sehnen, dann wächst das Fleisch, danach wird es mit Haut überzogen und am Ende werden sie durch einen Geist lebendig. Das heißt, Israel ist kein loser Verbund irgendwelcher Menschen. Sondern für Gott ist Israel wie eine Person. Daher kann er auch an anderer Stelle sagen, in Hosea 11,1 und 4 „ich habe Israel, meinen Sohn, mit Seilen der Liebe aus Ägypten, befreit“. Israel ist also immer, auch in der Deportation und Gefangenschaft Gegenstand der Liebe und des Wirkens Gottes geblieben.

In Vers 13 wird uns gesagt, dass gerade durch die Rückführung in die alte Heimat Israel erfährt, wer der lebendige Gott ist.

Im Zuge der Rückführung wird auch der Geist Gottes in sie kommen. Das bedeutet doch, dass sie in Gemeinschaft mit dem Lebendigen leben werden, genau das wird in Vers 14 bestätigt: „Ihr werdet daran das Wirken Gottes erkennen, erfahren und verstehen.“

 

  1. Was ist der Geheim-Sinn bzw. die geheime, nicht sofort erkennbare Bedeutung unseres Abschnitts?

Ein sonderbares Wort steht in Vers 7: Hesekiel weissagte, wie ihm befohlen war, da entstand ein Geräusch. Das Wort „Raásch“ ist nicht einfach ein Geräusch, sondern kann auch als ein Getöse, ein Beben bedeuten.

Daher hat die griechische Übersetzung unseres Textes es sogar mit Erdbeben übersetzt.

Was will uns das sagen? Wie können wir das verstehen? Da Israels komplette Wiederherstellung auch nach der Rückführung unter Esra und Nehemia im Jahre 515 v. Chr. tatsächlich noch nicht vorhanden war, müssen wir uns fragen, wann geschah sie?

Erst durch das Aufkommen der zionistischen Bewegung, wo Israel sich auch als ein politisches Volk annahm und durch die spätere Staatsgründung Israels 1948, als sie wieder zu einer Nation wurden, ist die Wiederherstellung ganz Israels geschehen. Wiederum ist durch die messianische Bewegung der Geist Gottes unter ihnen verkörpert. Doch das alles ist weltweit politisch, wie auch militärisch mit einem großen Getöse verbunden gewesen. Wie stark wurde und wird noch heute der Zionismus mit Getöse gebrandmarkt. Ebenso scheint die Welt immer wieder neu zu „beben“, egal, was Israel entscheidet, die Welt ist deswegen immer in Aufruhr. Doch der Text macht unmissverständlich deutlich, Gott der Herr führt Israel zu seinem Heil hindurch.

 

Wir wünschen Ihnen G’ttes Segen und viel Freude an den weiteren Beispielen.